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Wann hören Unternehmen und Kommunikationsbranche endlich auf, von Zielgruppen zu sprechen und Marketing wie Heckenschützen zu betreiben: Menschen sind keine Zielscheiben, keine Opfer. Es wäre der erste, längst überfällige Schritt zu einem etwas humaneren Business.

Sprache besitzt einen starken Einfluss auf unser Denken bzw. darauf, wie wir die Welt und unser Umfeld wahrnehmen. Seit dem 19. Jahrhundert vertreten Wissenschaftler wie Johann Gottfried Herder oder Wilhelm von Humboldt diesen Standpunkt. Der Sprachwissenschaftler Harald Haarmann ergänzt heute: „In jeder Sprache ist das Weltbild der Gesellschaft eingeprägt, in die man hineingeboren wurde.“ Oder eben das Weltbild der Szene, in der man sich bewegt. Die Marketing- und Kommunikationsbranche ist dbzgl. eine sehr spezielle Szene, hat ihren eigenen Jargon. Zum Beispiel, wenn es um das Skizzieren ihrer (potenziellen) Kunden, Käufer, Besucher, Gäste, Mitfahrer, Versicherten, ihres Spotpublikums, der  Webseitenbesucher, Social Follower … … Markenfans geht. Hier wird nämlich seit jeher von „DER Zielgruppe“ gesprochen.

Kurz gesagt: Mich hat der Terminus „Zielgruppe“ stets genervt. Auch als ich selber noch im Agenturbusiness tätig war. Bei jeder Präsentation und in der täglichen Kommunikation hab ich versucht, den Begriff zu vermeiden oder eben „humaner“ zu formulieren. Weil „Zielgruppe“ Menschen degradiert. Weil er sie zu Zielscheiben, zu Kanonenfutter, zu Opfern, zur Beute macht. – Der Ton macht die Musik und die Wortwahl ist in diesem Fall kennzeichnend dafür, was ich von Menschen, deren Vertrauen ich gewinnen und die ich an mein Angebot binden will, wirklich halte.

Zeit, nicht nur die Denkrichtung zu ändern.

Von „Zielgruppen“ zu reden, ist deshalb nicht nur unreflektiertes Marketingsprech. Es ist ein Zeichen fehlender Wertschätzung, eine Respektlosigkeit. Und es ist ein Indiz dafür, dass viele Marketing- und Kommunikationsmenschen ganz offensichtlich die neuen, veränderten Kräfteverhältnisse ignorieren. – „Habt Ihr den Schuss denn immer noch nicht gehört?“ möchte man am liebsten entgegnen. Kunden sind und werden keine Opfer mehr, so sehr sich dies vielleicht manch einer wünschen mag. Im Gegenteil: Kunden sind selbstbewusst, kritisch, renitent und treiben Unternehmen immer öfter vor sich her. Gehen für Nachhaltigkeit, für mehr Tier- und Menschenwohl auf die Straße, tragen Shoppinglust wie Shoppingfrust in Social Media zur Schau, loben und schreiben vernichtende Rezensionen, unterstützen konsumkritische Organisationen, stellen lauthals Forderungen an Unternehmen und ja: Sie boykottieren auch Marken und Geschäfte, die nicht mehr ihrem Wertesystem entsprechen.

Mit den heranwachsenden Generationen Y und Z als Treiber erhält dieser Trend noch mehr Dynamik. Und mit dem Internet als zentrale Informations-, Kommunikations-, Vernetzungs- und Shoppingplattform nutzt die kritische Öffentlichkeit ein Medium, das für Unternehmen nur begrenzt kontrollierbar ist. Und wie begegnen Unternehmen und Kommunikationsbranche den „neuen Kunden“? Sie agieren wie vor 50 Jahren: investieren erstmal in Reichweite, versuchen „ihre Zielgruppen“ dann in allen erdenklichen Lebenssituationen mit der Werbebotschaft zu konfrontieren und verfeinern parallel ihre sog. Targetingmethoden. Philippe Starck hat es, wie ich finde, sehr treffend, formuliert: „Wir entwickeln uns immer mehr zu einer Gesellschaft von Heckenschützen.“ Höchste Zeit umzudenken: „Time to make business more human!“ Und das fängt bei der Sprache an.

Linkes zum Thema:

„Thumb-Stop“, „Humaning“, „B4H“: The Strange Language of Modern Marketing“: New York Times, 25.11.2020

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