< Zurück
Wie kann es gelingen, unternehmerisches Handeln stärker am Gemeinwohl auszurichten? Welche Fähigkeiten sind von Führungskräften und BeraterInnen gefordert, um ein Management zu fördern, das ethische Fragen berücksichtigt? ... Das Symposium "Vorwärts! Und vergessen?" (1./2. Oktober 2021, Heidelberg) widmet sich diesen und ähnlichen Fragen aus Sicht der systemischen Organisationsentwicklung. Im Vorfeld dieses spannenden Events konnte ich Elena Linden, u. a. Coachin/Trainerin und Tagungsreferentin, für ein Interview gewinnen.

Frau Linden, sind Wachstum, Gewinnstreben einerseits und ethisches Handeln auf der anderen Seite Antagonisten, die zwangsläufig im Widerspruch stehen müssen? Oder lassen sie sich, wenn ja wie, vereinen?

Tatsächlich erwecken Korruptionsskandale, Menschrechtsverletzungen, Finanzspekulationen um lebensnotwendige Rohstoffe, gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, Bilanzfälschungen und Steuerbetrug – die Liste lässt sich beliebig verlängern – den Eindruck, dass Ethik und Wirtschaft in einem schiefen Verhältnis zueinander stehen. Trotz der vielen gesetzlichen Verschärfungen in den vergangenen Jahrzehnten. In der moralischen Empörung um diese Skandale ist jedoch bereits der Versuch enthalten, die vermeintlich gegensätzlich Bereiche zusammenzuführen. Denn sie verdeutlicht die Verletzung jener normativen Vorstellungen von einer menschengerechten und umweltbewussten Wirtschaft, welche angesichts globaler Krisen zu immer lauter werdenden Forderungen werden.

Sicherlich ist die Harmonisierung dieser Bereiche nicht ohne Reibung, Kontroversen und mühevolle Aushandlungsprozesse zu denken. Dennoch, oder gerade deshalb, ist sie besonders wichtig. Dabei geht es, aus meiner Sicht, nicht darum, die unternehmerischen Bestrebungen grundsätzlich in Frage zu stellen – kein ökonomisch denkender Mensch wird sich gegen Wachstum aussprechen. Doch Wachstum kann nicht mehr aus sich selbst heraus als Begründung wirtschaftlichen Handelns herangezogen werden.

Die Fragen, die uns herumtreiben und auch in Zukunft herumtreiben werden, lauten: „Wozu wachsen?“ und „Wie, über welche Wege und mit welchen Mitteln?“ Hierum muss gemeinschaftlich gerungen werden.

Nun haben ja bereits viele Unternehmen CSR-Abteilungen, starten eigene Nachhaltigkeitsinitiativen und engagieren sich z. B. als Sponsoren umwelt- oder gesellschaftspolitischer Projekte. Reicht das nicht aus, um „ethisch zu sein“? Können wir (als Gesellschaft) noch mehr von Unternehmen verlangen?

Diese Frage ist aus meiner Sicht enorm wichtig, denn sie richtet den Fokus auf die Kriterien, nach denen wir entscheiden, ob und in welchem Ausmaß Unternehmen „gut“ handeln. Es macht einen Unterschied, ob Ergebnistypen wie Produkte, Dienstleistungen und Angebote, ob Prozesse und Abläufe oder ob die Motive der jeweiligen Akteure einer Organisation und deren Handeln in den Blick genommen werden.

Moralische Motive bzw. die Frage nach der „Gesinnungsethik“ (Kant) werden nicht selten in Zweifel gezogen, sobald ein Unternehmen durch das Hervorheben ethischer Prinzipien, z. B. mit Hinweisen auf eine nachhaltige Unternehmenspraxis, Wettbewerbsvorteile erzielt. So müssen sich einige Unternehmen dem berechtigten wie unberechtigtem Vorwurf stellen, dass sie z. B. Umweltschutz ausschließlich aus Reputationsgründen und damit allein aus „Gewinninteresse“ praktizieren würden.

Corporate Social Responsibilty (CSR) als eine mögliche Kategorie fokussiert konkret auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen marktwirtschaftliches Handeln als gut i. S. von gemeinwohldienlich und sozial verträglich bewertet werden kann. Hier trifft man jedoch auf Begrifflichkeiten, die nur unzureichend definiert und damit auch schwer empirisch überprüfbar sind.

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird nicht zuletzt durch das Beispiel der „Lehman Brothers“ deutlich: Die Investmentbank hatte sich vor dem Bankrott selbst zum Advokaten für Nachhaltigkeit erhoben, unterstützte einige Umwelt- und Sozialhilfeprojekte und hat eine (CS)PR-Abteilung eingeführt. All das schützte nicht vor der riesigen Pleite, deren Folgen die ganze Welt erschüttern ließ und eine Vertrauenskrise in das Finanzsystem nach sich zog.

Auch der Public-Value-Ansatz übersetzt Gemeinwohldienlichkeit als „was im gesellschaftlichen Umfeld als gemeinwohldienlich bzw. förderlich anerkannt wird“ und ist damit in seiner Deutungsvielfalt völlig offen. Diese Gemeinwohlbilanzen und -indizes sind also ein erster Schritt, nicht weniger, aber auch nicht unbedingt mehr. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gemeinhin größere Klarheit darüber besteht, was Wirtschaftsethik nicht bedeutet oder zu bedeuten hat – z. B. hehre und ungelebte Leitsätze in Hochglanzmagazinen (Papier ist bekanntermaßen geduldig), Geldspenden für caritative Projekte oder andere Formen des Ablasshandels – als darüber, welche Aspekte eine fundierte Auseinandersetzung mit ethischen Fragen beinhalten sollte. Für mich entsteht Wirtschaftsethik genau in diesem Diskurs, also in der Reflexionsbereitschaft zu diesen und anderen Fragen.

Wozu sollten sie mehr tun?

Genau diese Frage könnte der Beginn eines ethischen Diskurses sein, der von den Stakeholdern eines Wirtschaftsunternehmens zu führen wäre. Leider finden in der Dringlichkeit des Alltagsgeschäftes wichtige Fragen nicht immer den Raum, den sie benötigen. Dennoch ist klar, dass staatliche Regulation allein nicht ausreicht – ethische Verantwortung kann und darf gesellschaftlich nicht aufgeteilt werden. Unternehmen tragen die Verantwortung für den Erhalt ihrer Wertschöpfungsketten, sie sind aber auch Teil unserer Gesellschaft.

In global agierenden Unternehmen sind die Folgen unmoralischer Entscheidungen jedoch nicht immer unmittelbar spürbar und betreffen den mitteleuropäischen Lebensalltag kaum – und wenn doch, wird Einzelversagen beteuert. Um diese Dynamiken aufzulösen braucht es eine Rückbindung des Wirtschaftshandelns an Wirtschaftsergebnisse. Ethik darf keine Debatte bleiben, die im Elfenbeinturm bleibt. Wir sollten begreifen, dass wir miteinander verbunden sind und dass das Handeln des einen auch das Handeln des anderen bedeutet. Dieser Netzwerkgedanke scheint unsere Technik schneller erfasst zu haben als wir selbst.

Ethisches Handeln, so hat man oft den Eindruck, fällt inhabergeführten Unternehmen leichter als Konzernen. Sind (große) Aktiengesellschaften also von Natur aus nicht in der Lage, konsequent ethisch zu agieren? Und welche systemischen Rahmenbedingungen bräuchte es, um ein Konzern-Management zu fördern, das mehr und mehr ethische Fragen berücksichtigt?


Dass Aktiengesellschaften per se dazu verdammt sind, sich ethischen Fragen zu entziehen, bezweifle ich. Im Gegenteil: Gerade, weil hier hohe Misstrauenspunkte bestehen, ist der Bedarf an einer ethischen Reflexion besonders groß. So wäre z. B. zu diskutieren, an welchen Interessen sich Vorstände und Aufsichtsräte in Kapitalgesellschaften zu orientieren haben. Fröhlich (2003) argumentiert hier, dass sich die Machtbalance „unmerklich in Richtung der operativen Geschäftsleitungen verschoben [habe], welche näher am Geschäft sind und so eine ihren eigenen Interessen entsprechende Informationsfilterung vornehmen könne[n].“ Er fordert, dass die interne Struktur, die Arbeitsweise und die Kompensationsthemen der Aufsichtsorgane transparent gemacht werden. Und Gehälter stärker an die Entwicklung der Unternehmensleistung relativ zu einem Branchenbenchmark zu binden.

Auch bei der Ausrichtung nach dem Shareholder Value bleibt die Frage offen, wie, d. h. über welche Wege gewinnorientierte Zielgrößen – die in ihrer Kurzfristigkeit aus meiner Sicht zurecht in Kritik stehen – erreicht werden und zu erreichen sind. Hier wäre schon viel getan, wenn der Zweck nicht alle Mittel heiligen würde und die moralischen Geländer definiert werden, an denen sich Manager auf dem Weg nach oben festhalten können. Diese Definitionsarbeit ist kollektiv wie individuell, z. B. im Zuge von Jahresgesprächen zu leisten – jenseits gut gemeinter Unternehmensleitlinien.

Gleichzeitig sollten sowohl inhabergeführte Unternehmen als auch Kapitalgesellschaften sowohl die Anliegen ihrer Stakeholder stärker in den Blick nehmen als auch jene innerbetrieblichen Institutionen i. S. von Interessenvertretungen stärken, denen eine ausgleichende Funktion zugeschrieben wird. Und die aus ihrer professionellen Rolle heraus aufgefordert sind, Stellung in konfliktgeladenen Diskursen zu beziehen. Leider gibt es immer kreativer Formen des Union Bustings, sodass die Wirkungskraft dieser Kontrollorgane insgesamt zu schwächeln scheint.

Jenseits dieser systemischen Rahmenbedingungen unterstütze ich Dr. Reinhard K. Sprengers (2003) Aussage in diesem Zusammenhang, dass wir auf die „Möglichkeit, anders handeln zu können“ beharren sollten: Wir sollten stärker die Freiheit und die damit verbundene Verantwortung betonen, spannungsreiche Entscheidungen und moralische Dilemmata entsprechend ethischer Überlegungen abzuwägen und uns von der Idee des teleologischen Sachzwangs von unternehmerischen Zielgrößen distanzieren. Moral kann nicht installiert, herbeigeredet oder in eine Organisation eingeführt werden. Sie entscheidet sich im Umgang mit inneren Konfliktsituationen und im Entscheidungsdruck. In Situationen also, bei denen wir auf uns selbst geworfen sind.

Toxisch wirken hier innere Ausflüchte im Sinne von „Das macht man in der Branche so…“ oder „Wenn ich es nicht mache, macht es jemand anderes…“ – Das sind innerliche Beschwichtigungsversuche, welche die Funktion haben, kognitive Dissonanzen aufzulösen, und unmoralisches Handeln zur Banalität zu erheben. Sich als kleines Zahnrädchen zu verstehen, regulierende Maßnahmen von oben zu erhoffen und die eigene Organisationskultur zu beklagen, statt im eigenen Wirkungskreis Veränderung zu bahnen – das sind Vermeidungsstrategien, die den Status quo aufrechterhalten.

Ein dazu alternatives Verhalten ist allerdings mit sozialen wie monetären Kosten verbunden. Und hier gilt es abzuwägen: Wozu bin ich bereit, welche Grenzen ziehe ich? Wenn alle so handeln würden wie ich, wäre das ein gutes Zusammenleben? Und wie kann ich so wirken, dass ich mein eigenes Spiegelbild ertrage? Es geht also immer um beides, um Rahmenbedingungen und um Einzelverhalten, um ein Sowohl-als-Auch, schließlich werden auch die Rahmenbedingungen durch politische wie organisationale Akteure gestaltet.

Wie ließe sich definieren, was ethisch, was ethisch noch vertretbar oder eben unethisch ist? Nehmen wir als plakatives Beispiel das Thema „Managervergütung (inkl. Boni, Abfindungen etc.) vs. durchschnittliche Arbeitnehmergehälter“: Könnte man hier konkrete Regeln und Größenordnungen benennen?

Diese Frage schließt direkt an das Thema „Gerechtigkeit“ an – neben der Ergebnisgerechtigkeit, also der Frage danach, wie gerecht die Höhe der jeweiligen monetären Zuwendungen verteilt wird, ist die Verfahrensgerechtigkeit, also wie gerecht der Prozess der Entscheidungsfindung hierüber, in Organisationen besonders interessant. Verfahrensgerechtigkeit wird dann erlebt, wenn der Weg zur Entscheidungsfindung demokratisch, nachvollziehbar und nach objektiven Leistungskriterien verläuft. Dann können wir gemeinhin Einkommensunterschiede auch gut annehmen und empfinden diese sogar nicht nur gerechtfertigt, sondern auch als gerecht.

Eine ethische Perspektive auf diese Frage schließt also auch die Reflexion der Entscheidungsprozesse ein und eine kritische Überprüfung der eingeschlagenen Praxis. Es geht daher um mehr als um die Moral der einzelnen Manager. Nämlich um die Frage, ob und wie ein Unternehmen Entscheidungen bahnt. Es geht also um Macht und Einfluss in Organisationen. Leider und zum Glück gibt es für ethische Fragen kein objektives Maß, das man heranführen könnte – Ethik ist keine Maßeinheit, sondern muss vielmehr als Aushandlungsprozess gedacht werden.

Im Fall der Managementgehälter ist Ethik die Fähigkeit, die Dinge ins Verhältnis zu rücken, sprich: relationaler als bisher zu agieren. Mit diesem Unterfangen sind Wagnisse und Vagheiten auszuhalten und zu gestalten. – Eindeutiger ist hier unser Grundgesetz: Es legt mit Art. 14 Abs. 2 fest, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch dem Allgemeinwohl dienen soll. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass diese Sozialpflichtigkeit neu gedacht und interpretiert werden kann und sollte, um die allgemeinen Grundlagen für den eigenen Ertragsnutzen aufrechtzuerhalten.

Bereits Cicero betonte, dass Menschen „den gemeinsamen Nutzen in den Mittelpunkt stellen und durch gegenseitige Leistungen, durch Geben und Nehmen, ferner durch Fachkenntnisse, Hilfeleistung und materielle Mittel das Band der Zusammengehörigkeit der Menschen untereinander knüpfen [sollten].“ Wann also wäre eine bessere Zeit als jetzt, um uns an das soziale Band unserer Gesellschaft zu erinnern?

Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank.

Zur Person:

Elena Linden besitzt einen Master of Science in Psychologie und bietet seit 2011 Seminare, Workshops und Vorträge zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit und der psychischen Gesundheit als Trainerin, Moderatorin und systemische Coachin an. Sie begleitet und unterstützt Unternehmen und deren Führungskräfte, Funktionsträger und Mitarbeiter (aller Ebenen) dabei, in eine gute und tragfähige Zusammenarbeit zu finden, tätigkeitsspezifische Entwicklungsfelder zu erkennen und mit neuen Herausforderungen souverän und rollengerecht umzugehen. Zur Website Darüber hinaus ist sie Mitarbeiterin am Zentrum für systemische Forschung und Beratung (zsfb GmbH), Heidelberg.

Zum Symposium:

Das Symposium: Vorwärts! Und vergessen? Systemische Organisationsentwicklung im Spannungsfeld von Exzellenz und Ethik, 1./2. Oktober 2021, Heidelberg.

Veranstalter: das Heidelberger Institut für systemische Forschung und das Zentrum für systemische Forschung und Beratung (zsfb GmbH), Heidelberg.

Wissenschaftliche Leitung der Tagung: Dr. Hans Rudi Fischer und Prof. Michael Göhlich.

Verweise:

Cicero: De officiis, I22
Sprenger, Dr. Reinhard K. (2003). Empörungsfreie Zone. OrganisationsEntwicklung, 2, 79-80.
Fröhlich, Caspar (2003). Der Shareholder Value ist nicht die Wurzel des Übels. OrganisationsEntwicklung, 2, 77-78.

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert