In Zeiten wie diesen zeigt sich wie im Röntgenblick der Zustand unserer Gesellschaft. Schonungslos erfahren wir, wie es um uns und unser Gemeinwesen steht. Es fokussiert sich alles zur Essenz. Oder um es mit den Worten des Barockdichters Angelus Silesius zu sagen:
»Mensch, werde wesentlich.
Denn wenn die Welt vergeht,
so fällt der Zufall weg,
das Wesen, das besteht.«
Und so spüren wir heute deutlicher denn je, dass die Kultur eben nicht die dekorative Kirsche auf der Sahnetorte ist, sondern die essentielle Hefe im Teig unserer Gesellschaft sein müsste. So müssen die Kulturschaffenden des Landes auch nicht eingeladen werden an den Tisch, an dem über und mit den systemrelevanten Berufen in Pandemiezeiten verhandelt wird, nein – die Kultur IST der Tisch, an dem verhandelt wird.
Denn wo wäre unsere Gesellschaft heute OHNE die Errungenschaften der Kulturgeschichte, von der Wiege Europas über die Aufklärung bis hin zur freiheitlichen Demokratie, in der wir heute leben können? Und was wäre das Land der Dichter und Denker heute OHNE Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven oder Johannes Brahms, was wäre es OHNE Matthias Grünewald oder Rainer Maria Rilke, Franz Marc oder Dietrich Bonhoeffer?
Und wo sind diese Persönlichkeiten heute? Und was tun wir dafür, dass es sie gibt? Was tun wir für unsere kulturelle Bildung, unsere kulturelle Vielfalt und den kulturellen Nährboden? Wie schützen wir sie? Wie pflegen wir sie? Welche Werte vermitteln wir unseren Kindern? Fragen über Fragen … … … ganz besonders in diesen Zeiten, in denen die Kultur zur Freizeitbeschäftigung degradiert wird, zum Add-on einer sich selbst genügenden Konsumgesellschaft in kapitalistischer Endzeit.
Es ist hohe Zeit, dass wir uns des Wesens vergewissern müssen, das bestehen bleibt, wenn der Zufall wegfällt. Jeder für sich, aber ganz besonders auch wir alle zusammen in unserer Gemeinschaft, der Gesellschaft insgesamt. Lasst uns um das Wesen kümmern, das besteht, wie Silesius schreibt.
Vollbesetzte Flieger, aber leere Konzertsäle: „Im Falle eines drohenden Kulturverlustes fallen leider keine Geldbeutel von der Decke. Ziehen Sie deshalb bitte einen der greifbaren Mäzene an sich heran, und drücken sie ihm fest auf Mund und Nase. Dann helfen Sie bitte den klammen Künstlern, die neben Ihnen sitzen.“
Jeder Einzelne ist gefordert und gefragt. Aber natürlich muss auch die Frage gestellt werden: Was können oder müssen gerade auch Unternehmen beitragen, dass Deutschland eine innovative und inspirierte Kulturnation bleibt bzw. richtiger: wieder wird? Dass wir nicht nur vom guten Ruf vergangener Jahrhunderte zehren? Warum haben Unternehmen eine gesellschaftliche Verpflichtung hierzu? Warum sollten sie dies ohne wirtschaftliche oder marketingtechnische Hintergedanken, also altruistisch tun?
Die Antwort ist so schlicht wie zwingend:
Unternehmen sind wesentliche Mitglieder der Gesellschaft, sie leben und nähren sich von uns, von jedem einzelnen Mitglied dieser Gesellschaft. Und sie werden nur dauerhaft erfolgreich können, wenn sie sich auch FÜR diese Gesellschaft engagieren. Das Gemeinwohl ist in klugem unternehmerischen Handeln sozusagen systemimmanent – und somit wird der „Common Purpose zum New Symphonic“.
Keiner wird alleine bestehen können. Wir alle brauchen einander mit der Fülle und Vielfalt unserer Talente und Persönlichkeiten. Und so heißt es zwingend, die Möglichkeiten und Ziele jedes Einzelnen in ein symphonisches Miteinander zu verwandeln.
Das traditionelle Sponsoring von Unternehmen, das ja ein Geschäft ist im Sinne eines Gegenwerts in Reichweite, Reputation und Imagegewinn, muss sich verwandeln in ein Engagement im Sinne eines Common Purpose, das zweckfrei dem Gemeinwohl dient. Immer mehr Firmen kommen zu derartigen Selbstverpflichtungen und nehmen somit ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr. So wie es in früheren Zeiten Könige oder Fürstenhäuser, die Kirche oder Mäzene getan haben.
»Unternehmen, werdet symphonisch.
Denn wenn ihr der Gesellschaft dient, von der ihr lebt,
sorgt ihr dafür, dass das Menschliche über allem steht.«
Oder um es in den Worten eines Musikers zu sagen: Lauter richtige Töne machen noch keine Musik. Erst wenn die Klänge symphonisch phrasiert und gestaltet, empfunden und verbunden werden, dann kann Musik entstehen. Und die Musik gibt uns auch immer die Chance, unsere kosmische Natur zu erleben. In jedem Moment und unmittelbar.
Und so hat jede Zeit ihre Aufgaben und Herausforderungen. Mit Corona sind wir aufgerufen, wesentlich zu werden – und damit symphonisch!
Zum Autor:
Mark Mast stammt aus dem Schwarzwald. Wäre es nach dem Wunsch des Vaters gegangen, hätte er das familieneigene Sägewerk übernommen. Doch er nahm einen anderen Weg. Studierte Musik in Heidelberg, Paris und München. Arbeitete u. a. mit Leonard Bernstein und Sergiu Celibidache zusammen und ist seit nun 26 Jahren Chefdirigent und Intendant der Bayerischen Philharmonie. Zudem ist er seit 23 Jahren Künstlerischer Leiter des Schwarzwald Musikfestivals und international als Gastdirigent und Excellent Speaker zu erleben. Doch seit dem Ausbruch der Pandemie, mit dem gleichzeitigen Stopp des Kulturbetriebs, sind mehr denn je seine Management-Fähigkeiten gefragt.
Links zum Beitrag:
• Wikipediaeintrag zu Mark Mast
• Website Bayerische Philharmonie
Schöner Kommentar lieber Mark. Und eine gute Frage, wie Unternehmen motiviert werden können, sich für die Kulturbranche einzusetzen – in einer Zeit, in der sie als nicht systemrelevant erachtet wird. Ich hoffe mit der Fridays for Future-Generation wächst auch eine neue Generation von Unternehmenslenker/Innen an, die den Gewinn nicht nur an Bilanzkennzahlen misst…